Rare Disease Day 29.02.2024

Tag der seltenen Erkrankungen

Ein Beitrag von Tina Kouemo:

An diesem Tag soll das Bewusstsein geschaffen werden, dass es seltene Erkrankungen gibt und was es bedeutet eine „Rarität“ zu haben. In meinem konkreten Fall könnte man von einem Menschen in einer Million Menschen sprechen. In Deutschland sind wir ca. 80 Kinder mit FOXG1 Syndrom und mein Sohn ist mittlerweile fast 12 Jahre alt. Wie unsere Geschichte begann: Es gab zunächst einmal 3 Jahre lang überhaupt keine Diagnose. Wir waren nur einer von vielen „entwicklungsverzögerten“ und kämpften mit unserem Alltag. Das Leben mit einer seltenen Erkrankung stellt einen vor besondere Herausforderungen. Er hat die ersten 6 Jahre nie durchgeschlafen und war dabei jede Nacht 2-3 Stunden wach – wenn es gut lief. Auch die Kinderärzte kannten sich mit solchen Fällen überhaupt nicht aus und oft hatte ich das Gefühl, ich wurde gar nicht ernst genommen. Nach 3 Jahren waren wir in unserer Reise also bei Pilatus angekommen, nämlich in der Humangenetik und das Kind hatte einen Namen: FOXG1 Syndrom. Ein Schlag ins Gesicht bei dem einen die Luft zum Atmen wegbleibt. Nie laufen, nie sprechen usw. kognitiv stark eingeschränkt. Ich musste raus aus der Klinik, eine Runde frische Luft schnappen. Das Leben war eine ganze Zeit in absolutem Stillstand. Man nimmt sein Kind wieder mit nach Hause und hat die Gewissheit, dass dieses ANDERE Leben nicht so schnell besser wird. So geht es mehr oder weniger allen Eltern, ob sie ein Kind mit seltener Erkrankung haben, oder aber einer chronischen Erkrankung, Krebsdiagnose. Völlig egal – zunächst einmal befindet man sich im freien Fall!

Ich bin über Umwege und äußeren Einflüssen zur Molekularbiologie gekommen und zusammen mit anderen Eltern haben wir den Verein FOXG1 Deutschland e.V. ins Leben gerufen. Hier wird ausschließlich Geld gesammelt, um das Thema FOXG1 in der Wissenschaft voran zu bringen.

Tatsächlich gibt es mehrere Elterngruppen von seltenen Erkrankungen, die sich auf den Weg nach einer Therapie gemacht haben. Erstaunlich finde ich, wieviel Energie in Menschen frei wird, wenn das Schicksal an die Tür klopft. Wir sind uns darüber einig, dass es nicht mehr die Frage ist, ob ein Gendefekt „repariert“ werden kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, die hauptsächlich vom Faktor Geld und wissenschaftlichen Ressourcen abhängt. Wie eine Therapie in welchem Fall aussehen wird, kann sehr unterschiedlich sein. Was alle Eltern – von egal welchem Gendefekt – wollen, ist eine Linderung der Symptome. Aber Wissenschaft und Gentherapien sind ein Thema, das ich hier gar nicht behandeln möchte.

Mit welchen Symptomen ich in der Zwischenzeit viel mehr hadere sind die Symptome der Gesellschaft. In der heutigen Zeit, wo jeder auf seinem „eigenen Kanal“ unterwegs ist und dort alles gibt, würde ich mir wünschen, dass man sich auf die Kanäle der anderen einschaltet und zwar auf der Ebene, die man noch vor 100 Jahren benutzt hat. Die Begegnung und Kommunikation ist für unsere Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich und leider wissen viele Menschen nicht einmal mehr, wie sie sich begegnen. Es sind Momente, die mich mit meinem Schicksal mehr hadern lassen, wie die Tatsache, dass ich aufgrund eines Schnupfens wieder 2-3 sehr schlechte Nächte mit meinem Sohn haben werde. Diese Momente beschäftigen mich teilweise Jahre später noch. Beispiel gefällig?

Ich bin mit dem jüngeren Bruder beim Kinderturnen und unser Großer sitzt im Rollstuhl oben bei den Zuschauerplätzen und spielt zufrieden mit seinem Spielzeug, das an seinem Rollstuhltisch befestigt ist. Ein Mädchen von vielleicht 4 Jahren starrt wie geschockt auf den Rollstuhl und bewegt sich keinen Millimeter. Sie hat die Augen weit aufgerissen und der Mund halboffen. Was sich in diesem Kopf gerade abspielt kann ich nur vermuten, würde aber gerne die Situation „entschockieren“ und das Ganze zu einer positiven Begegnung werden lassen. Wenn der große Nasenbär nicht im Rollstuhl sitzt sieht man ihm seine Behinderung gar nicht an, aber sie scheint sich in ihrem kindlichen Kopf gerade ganz viel vorzustellen. Die Mutter steht neben ihr und sollte die Situation eigentlich auch bemerkt haben. Auf meinem ganzen Gesicht und auch meine Körperhaltung signalisiert: MIT MIR KANN MAN SPRECHEN – MACHE GERNE DEN ERKLÄRBÄR. Kein Signal vom Kind, was mir einleuchtet, da sie ja unter Schock steht, leider aber auch kein Lösungsansatz von Seiten der Mutter! Ich halte gerade eine Tüte Kinderkekse in der Hand und versuche wie ein Entertainer die Situation zu entschärfen: “Keks?“ Ich halte ihr die Packung hin. Sie schüttelt den Kopf und genau jetzt wäre ein wunderbarer Zeitpunkt gewesen, dass die Mutter die Initiative ergreift und auf mich oder mein Nasenbär zukommt. Was macht sie stattdessen? Sie zieht ihr Kind weg, was mit einem bleibenden Schock ihr Leben weiterlebt. Manchmal denke ich drüber nach, was ich hätte anders machen können. Ob die Mutter sich das auch fragt?

Mein Sohn spricht nicht, sitzt im Rollstuhl und sucht auch selten Blickkontakt. Das verunsichert die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise. Manche begrüßen ihn und bekommen dafür ein Lächeln von ihm geschenkt. Kinder im Grundschulalter sind meist sehr verunsichert und kommen nicht einmal in seine Nähe. Das schmerzt mich immer ganz besonders, weil ich hier auch gerne bereit bin, mit ihnen den Weg zu ihm zu gehen. Er hat fast immer gute Laune, besonders wenn er Kinderstimmen hört lacht er. Kleinkinder, sind noch sehr unbefangen und setzen sich neben ihn auf den Boden und beginnen mit seinen Spielsachen zu spielen. Es ist für beide Seiten eine wunderbare Begegnung, ohne dass es den Kleinsten unserer Gesellschaft bewusst ist, dass er nicht sprechen oder laufen kann.

So gibt es einen Tag der seltenen Erkrankungen und einen Tag für Trisomie 21. Bei letzterem werden zum Zeichen der Solidarität 2 verschieden farbige Strümpfe angezogen. Ein sehr schönes Bild, wie ich finde. Wäre es nicht schön, wenn wir jeden Tag ein Zeichen der Solidarität setzen? Unser jüngerer Sohn, der das Leben nie anders kannte, als mit einem behinderten Bruder, trägt im Herzen an jedem Tag 2 verschiedenfarbige Strümpfe. Vor kurzem sang er ganz locker lässig:“ Ich habe einen Delfin in meiner Bauchtasche…….!“ Mein großer Sohn und ich mussten beide Lachen. Ich glaube nicht, dass mein großer Sohn weiß, was eine Bauchtasche ist, aber es war die Art des Gesangs, diese Leichtigkeit, was sein Leben in der Vorfreude auf die Faschingsparty in der Schule zum Singen brachte. Kleine Kinder nehmen meinen großen Sohn nicht als behindert war, weil sie diese Vokabeln noch nicht kennen. In welchem Alter geht uns diese Leichtigkeit verloren? Dann, wenn uns Erwachsene diese Welt nicht erklären können.

Meine Freundin, der ich gerne den Ehrentitel Mrs. Inklusion verleihe, hat sich auf den Weg gemacht und Inklusionsboxen ins Leben gerufen. Es sind Boxen, die zusammengestellt werden, je nach Alter oder auch Interesse. So gibt es Bücher zu unterschiedlichen Themen und auch Spielzeug, was das Thema Behinderung im Fokus hat. Auch einzelne Vereine haben schon ihre eigenen Inklusionsboxen gemacht und speziell ihren Gendefekt zum Thema gemacht. Was für Geschwisterkinder und Klassenkameraden anfing, sollte zu einem Flächenbrand werden und da Diversität, so habe ich mir sagen lassen, auf dem Schulplan steht, würde ich mir wünschen, dass dieses Thema sehr viel mehr aufgegriffen wird. Wir sind auch nicht immer in dieser „anderen Welt“ gewesen. Außerdem bin ich auch nicht mehr bereit „nur in dieser anderen Welt“ zu leben. Ich möchte auch zum Rest der Gesellschaft gehören.

Warum sollten wir alle sensibler werden? Jetzt könnte ich sagen, damit ich mich besser fühle mit meinem behinderten Kind! Damit der behinderte, alte oder kranke Mensch sich besser fühlt, könnte man auch argumentieren. Die Antwort lautet, damit wir uns alle besser fühlen. In einer pflegesensiblen Gesellschaft würden wir uns alle besser fühlen, keine Berührungsängste haben und falls es selber einmal so weit ist, müssten wir nicht unter den Berührungsängsten der anderen selber leiden. Wir Eltern von behinderten oder chronisch kranken Kindern leiden mit unseren Kindern unter gesellschaftlichen Ausgrenzungen auf unterschiedlichen Ebenen. Unsere Kinder werden nie zu Geburtstagen eingeladen, sie haben keine nicht-behinderten Freunde und Inklusion gibt es bestenfalls noch im Kindergarten. Danach wird nie für uns „mitgedacht“, weder das Thema Barrierefreiheit funktioniert wirklich gut, Hilfsmittelversorgung ist ein immerwährender Kampf und ab der Volljährigkeit wird es noch schlimmer. Von was wir richtig viel haben, ist Bürokratie. Wir müssen alles aufwändig beantragen und abrechnen, Ordner füllen sich im Rekordtempo. In den Ferien können wir zusehen, wie Betreuung stattfinden soll. Selten ist ein Ferienprogramm inklusiv. Wir würden unsere Kinder nicht beim Kletterkurs anmelden, aber beim Reiten vom örtlichen Reitverein, könnten wir genauso Spaß haben. Als Eltern muss einer seine Karriere aufgeben und der andere braucht einen sehr sozialen und flexiblen Arbeitgeber. Als Ehepaar muss man sich die Freizeit sehr gut organisieren und planen. Unsere Kinder werden immer Betreuung brauchen und „Babysitter“ werden für Kinder wie unsere auch immer schwieriger zu finden. Wir pflegen nicht nur, wie in der Seniorenpflege ein paar Jahre. Es ist eine Lebensaufgabe und über die Zukunft möchte kaum jemand nachdenken. Es müssen politische Entscheidungen getroffen werden, die den Eltern die Entlastung geben, die sie brauchen. Hier stehen wir an der Seite mit den pflegenden Angehörigen von Senioren und einer Gruppe, die es kaum in die Schlagzeilen schafft. Young Carer sind Jugendliche, die ihre Eltern pflegen. Auch das gibt es und wird nicht thematisiert, weder in Politik noch Gesellschaft. Es muss sich etwas ändern, für Menschen, die andere Menschen pflegen. Die Frage ist, wäre es einfacher politische Entscheidungen zu treffen, wenn die Gesellschaft insgesamt pflegesensibler wäre?

An dieser Stelle ganz bewusst die Aufforderung zum Nachdenken: In welcher Art von Gesellschaft möchten SIE leben?

Ich plädiere für ein Bild „farbiger Socken und diese bitte knallbunt! Die Welt ist bunt und so gefällt sie mir.

Wenn Sie wieder einmal einem Menschen begegnen, bei dem sich die Unsicherheit bei Ihnen breit macht, denken Sie an meinen kleinen Sohn und singen in Gedanken oder summen vor sich hin….“ich habe einen Delfin in meiner Bauchtasche……“ 🙂